... meine Rezensionen

Der Anschlag [H]

von Stephen King

 

Inhalt und Umsetzung

JFKStephen KingDavid Nathan.

Drei Garanten für ein geniales Erlebnis – oder etwa nicht?


Als ich nach Weihnachten wieder gen Heimat fuhr, der Bus eine Pause am Rastplatz machte und ich im Shop auf die Jagd nach Zigaretten ging, fiel mein Blick auf das Hörbuchregal. Die Sanifair-Coupons die sich in meiner Geldbörse stapelten (ich fahre oft mit dem Bus und mobile Toiletten sind mir zuwider) hatten einen Zweck gefunden.

Denn was hatte ich gesehen? Der Anschlag auf Kennedy, geschrieben von King, gelesen von Nathan – drei Namen, die förmlich schrien „kauf’ mich, hör’ mich, genieß’ mich“.

Wer wäre ich, hätte ich diesem Ruf widerstanden?


 

Tjoah … und jetzt sitze ich hier. Seit drei Tagen dudeln die MP3s und ich schwanke zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt.

Dazu ist zu sagen, dass ich hochgradig stimmaffin bin (soll bedeuten, dass mich Stimmen außerordentlich – man möge mir den Kalauer verzeihen – ansprechen) und durchaus die Geduld aufbringe, mich stundenlang einem vorgelesenen Text hinzugeben. Dem Endzeitroman Puls beispielsweise habe ich in einem Rutsch gelauscht. Beide Bücher wurden von David Nathan eingelesen und – was soll ich sagen? – der Mann hat es einfach drauf. Mal abgesehen davon, dass seine Stimmbänder höchst angenehme Klänge hervorrufen, versteht er sich auch darauf, unterschiedlichsten Charakteren durch Tonfalländerungen und gegebenenfalls der Verwendung von Akzenten jeweils ihren eigenen Charme einzuhauchen. Japp, ich bin begeistert und ich mache ganz sicher keinen Hehl daraus. An Nathan liegt es also sicher nicht, dass ich mich immer wieder dabei erwische, mit den Gedanken abzuschweifen (und jetzt sogar in die Tasten zu hauen, während mein DVD-Player sich weiterhin tapfer abmüht).


Nein, es liegt am Buch.


Dazu ein paar Worte:

Ich habe Stephen King gelesen, da habe ich quasi noch in den Pampers … na ja. Sind wir ehrlich und sagen wir, dass ich spätestens auf dem Gymnasium seine Bücher verschlungen habe. Ich erinnere mich noch allzu gut daran, dass ich regelrecht Bammel hatte, auf’s Klo zu gehen, während ich mich durch die Tausend Seiten ES ackerte. Sie wissen schon: das Wesen, welches bevorzugt als Clown Pennywise in der schnuffigfreundlichen (Achtung! Ironie!) Stadt Derry auf Kinderfang gegangen ist. Damals war ich 14. Jetzt – über 20 Jahre später – mag es mich wohl nicht mehr arg so sehr vom Hocker reißen, dass das ultimative Böse über eine Kleinstadt herfällt. Dennoch war das Lesevergnügen einschneidend und prägend. Ich denke, es geht vielen Lesern so, die das Buch (in jungen Jahren) geschmökert haben.

Warum ich so auf ES herumreite, obwohl ich wahrscheinlich sämtliche Bücher gelesen habe, die King bis zum Millennium zu Papier gebracht hatte?

Er kehrt zurück. Also eigentlich der Protagonist aus der Anschlag kehrt zurück. Mhm … Näääh, King kehrt zurück und benutzt Jake Epping als Vehikel. Und was soll ich sagen? Es ist großartig, dass er das tut.

Wäh?!?, werden Sie jetzt vielleicht denken, Kennedy wurde in Dallas erschossen, was hat Derry damit zu tun? Gedulden Sie sich bitte noch für ein paar Zeilen, ich komme darauf zurück.


King erzählt Jakes Geschichte aus der ersten Person Singular (Ich-Perspektive). Ein großartiger Kniff, den ich zu schätzen weiß. Jake ist Anfangs 35 Jahre alt, was ihn also zu einem Vertreter meiner Generation macht. Er ist Englischlehrer. Das hat er mit King gemeinsam, der gern auf biographische Eckdaten zurückgreift. Nun gut, Lehrer war ich nie – aber ich war Dozent. Und wenn Jake ins Schwärmen gerät, wenn er über seine Erlebnisse als Lehrkraft berichtet, dann kann ich das nur zu gut nachvollziehen.

Kurz gesagt: Jake ist für mich die ideale Identifikationsfigur.


Der Roman beginnt im Jahr 2009 mit einem Aufsatz, den Jake in seiner Funktion als Lehrkraft für Erwachsenenbildung Korrektur liest. Dieser Aufsatz wird zu einem Auslöser für eine Geschichte, die knapp 33 Stunden brauchen wird, bis sie zu Ende erzählt ist. Mit den 33 Stunden meine ich das Hörbuch. Der Roman selbst umspannt im Übrigen Jahre.

Das was Jake liest, treibt ihm zum ersten Mal seit langer Zeit Tränen in die Augen, denn er erfährt von den Erlebnissen eines Hausmeisters, dessen Vater vor Jahrzehnten in Derry (jahaaa, das Derry) seine dollen fünf Minuten gekriegt hat und mit einem Hammer seine Familie auslöschen wollte. Der Hausmeister überlebte als einziger.

Zwei Jahre nach der Lektüre spricht Al, der Inhaber des örtlichen Diners, Jake an – er hätte eine wichtige Mitteilung zu machen. Und die hat er tatsächlich. Denn in seinem Laden gibt es im Keller ein Portal, das ihn zuverlässig in das Jahr 1958 versetzen kann. Al hatte den Entschluss gefasst, das Zeitportal zu nutzen, um den Mord an John Fitzgerald Kennedy zu verhindern. Leider, leider ist ihm eine Kleinigkeit namens Lungenkrebs dazwischengekommen. Folgerichtig braucht er einen Ersatzmann. Nicht schwer zu erraten, wer der Glückliche sein soll.

(In King-Manier dauert das Ganze übrigens fast vier Stunden – ist allerdings fesselnd umgesetzt.)


So, viel mehr verrate ich nicht über die Handlung.

Typisch für King sind seine aaaaauschweeeeifenden Beschreibungen. Das ist okay, das ist atmosphärisch. Er hat das Talent, die Gedanken und Gefühle seiner Protagonisten genauestens zu … mhm … „erspüren“ wäre ein gutes Wort dafür. Also nehme ich es: er hat das Talent, seine Protagonisten zu erspüren. Das dann gepaart mit der Fähigkeit die passenden Worte zu finden, japp, das ist schon ein Genuss. Natürlich reden wir nicht von hochtrabender Weltliteratur. Wir reden von – wie King selbst sinngemäß gesagt hat – Fastfood. Aber manchmal muss es Fastfood sein und dieses hier ist nicht mit profanem MacDoof zu vergleichen. Es ist um Längen leckerer.

Außerdem habe ich das Gefühl, dass Kings Schreibkünste gewachsen sind. Wäre es vermessen zu behaupten, dass er sich meiner Entwicklung als Leser angepasst hat – oder andersherum? Na ja, es klingt seltsam, aber es ist festzuhalten, dass sich der Stil verändert hat. Wer sich durch die Der Dunkle Turm-Saga geackert hat (und das habe ich) und nach Band sieben (acht) sofort wieder mit Band eins anfängt, wird sofort erkennen, was ich meine. King wurde über die Jahre subtiler. Was in ES noch das ultimative Böse ist – das Böse um des Bösen Willen – wird feinsinniger, in der Beschreibung nuancierter.

Ja sicher, auch in Der Anschlag gibt es das absolute Böse. Kein Wunder, wenn man sich in Derry herumtreibt. Derry zieht sich wie ein roter Faden durch Kings Gesamtwerk – er wäre töricht, wenn er an der Grundidee dieser Stadt etwas ändern würde.


 

Fasse ich also zusammen: Nathan super, Kings Schreibstil super, Derry superduper …

(Ah, ich schulde Ihnen noch eine Erklärung: Jake nutzt Derry als Probelauf, ehe er sich Dallas widmet.)

Aber was ist es, dass mich jetzt tippen statt zuhören lässt?

Vielleicht sind es die Wiederholungen. Jake ist ein von Zweifeln geplagter Charakter. Stets hinterfragt er, was um ihn herum geschieht. Das ist soweit ja auch in Ordnung. Aber er macht es immer und immer wieder. Mit nur leicht abgewandelter Aussage. Das nervt.

Dann sind es die Nebenhandlungen. Da bin ich mir sicher.

Um doch noch etwas zu spoilern (ich gebe mir Mühe es nicht zu sehr zu tun), damit ich erklären kann, was ich meine: Die Zeitreise startet im Jahr 1958 – bekanntlich stirbt Kennedy am 22. November 1963 (daher auch der Originaltitel 11/22/63). Das ist ein verdammt cleverer Kunstgriff des Autors. In mehrerlei Hinsicht. Zum einen sind die ersten Ereignisse um ES grade erst vorbei – der geneigte Hörer/Leser darf also darauf hoffen, dem ein oder anderen Mitglied des Clubs der Verlierer zu begegnen. Zum anderen bieten die fünf Jahre ausreichend Zeit, die Atmosphäre der späten Fünfziger, frühen Sechziger zu beschreiben. Und ich muss zugeben, japp, ich kann mir gut den damaligen Zeitgeist vorstellen (ich sag nur Bikini-Atoll und Kubakrise). Außerdem braucht Jake einen Anker in der Vergangenheit – die Möglichkeit, in die Zeit einzutauchen, so dass ihm etwas an den Menschen liegt, denen er begegnet.

Wie gesagt: super Trick. Nur leider … ist er langweilig.

Finde ich jedenfalls.

 

Ich wünsche mir eine Zeitreisegeschichte. Ich wünsche mir eine Expedition nach Derry. Ich wünsche mir die Begegnung mit Kennedy. Und ich bin neugierig darauf, ob und wie King das Attentat verhindern wird. Ob er … wagemutig genug dazu ist. Wird er die offizielle Version verfolgen - oder sich einer der unzähligen Verschwörungstheorien hingeben?

Ich wünsche mir hingegen keine detaillierte Beschreibung der Wartezeit, die Jake zu überstehen hat. Ja, sicher. King bietet dem Hörer/Leser die Gelegenheit, mit den Nebendarstellern zu sympathisieren, sie ins Herz zu schließen. Stets in der Sorge, dass sie früher oder später über die Klinge springen – das Klingehoppsen ist schließlich bekanntermaßen eine Spezialität des Autors. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich unter brennenden Augen gelitten habe, als George dem Papierschiffchen im Rinnstein hinterher und in sein Verderben rannte. Hey, man bedenke, das war das erste Opfer auf einer der ersten Seiten von ES und mir kullerten die Tränen.

Aber … ich kann nicht behaupten, dass mir – seit ich mit der zweiten CD (von vier) des Anschlages angefangen habe – auch nur irgendeine Spur von Mitgefühl für die Protagonisten empfinde. Ganz im Gegenteil erwische ich mich zunehmend dabei, wie ich lauthals die Lautsprecher anmeckere: „Jahaaa, wissen wir! Mach schon weiter! Komm zum Punkt!“


 

Nun ja. Vielleicht liegt es an mir. Eventuell ist eine CD pro Tag schlichtweg zu viel. Möglicherweise fehlt es mir auch an Empathie.


Ich werde mich jedenfalls weiterhin dem Jahr 1962 (japp, da bin ich immerhin schon angekommen) widmen und mal sehen, ob ich den Spannungsbogen wiederfinden kann.

Hat wer eine Lupe für mich?



Fazit

Nope, ich bin noch nicht durch. Ich hänge auf CD drei fest und ich zweifele daran, dass ich das Ende noch erleben werde … dabei hat es so vielversprechend angefangen.



25.02.2015

 

 

 

Nachtrag:

Es ist geschafft. Ich bin so gut wie durch. Aktuell läuft Track 387.

Ohne zu spoilern sei gesagt, dass es sich - wenn auch nach zähem Ringen - gelohnt hat, die vierte CD einzulegen. Kings Geschichte nimmt an Tempo auf, präsentiert, nebst vorraussehbarer Handlungsstränge, eine erschreckend konsequente Wendung, die mich äußerst versöhnlich stimmt.

 

Falls Sie - ähnlich mir selbst - beim Lesen oder Hören des Romanes einen Durchhänger haben sollten, finden Sie an dieser Stelle eine gute Zusammenfassung (aber Achtung, es wird hemmungslos gespoilert): Inhaltsangabe der King Wiki

 

01.03.2015

 

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