Konsequente Selbstbestimmung

Meine unsortierten zehn Cent

zur Selbsttötungsdebatte

 

Es ging die letzten Monate wieder hoch her im Medienzirkus. Ich weiß gar nicht, wie oft ich – auf der Suche nach befriedigendem TV-Futter (ja, ja, ein Paradoxon in sich, ich weiß) – bei der ein oder anderen Gesprächsrunde hängengeblieben bin, in der – ganz Medienzirkus halt – durchaus aggressiv und gewollt emotional, polarisierte Meinungen aufeinanderstießen.

 

Worum es geht, ist schnell umrissen: darf in unserem Land eine (ärztliche) Unterstützung der Selbsttötung erlaubt werden oder nicht?

 

Aus christlicher Sicht dürfte die Frage schnell beantwortet sein: „du sollst nicht töten“. Darin ist das eigene Leben inbegriffen. Soweit ich weiß, gilt Selbsttötung als eine der Sünden (wenn nicht sogar als die Sünde), welche Gott nicht verzeiht.

 

Nun bin ich aber kein gläubiger Mensch. Auch wenn ich protestantisch erzogen wurde, ist es nun einmal so, dass ich nicht an ein göttliches Wesen glaube.

(Auf eine Debatte darüber, ob die Wissenschaft als solche, als eine Art Religion angesehen werden kann, möchte ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Vielleicht jedoch ein anderes Mal; das Thema wäre ein paar Überlegungen wert.)

Ich klammere im Folgenden die Religion als Argument aus. Zum einen, weil ich mich in der religiösen Thematik nicht gut genug auskenne und zum anderen, weil es leicht passieren kann, dass ich mich damit auf dünnes Eis begebe. Normalerweise mag ich es ganz gern mal, dünnes Eis zu betreten.

Aber nicht heute, ehrlich gesagt.

 

Ich bin überzeugt davon, dass jeder Mensch die Verantwortung für sein eigenes Leben trägt. Jedenfalls im Rahmen seiner Möglichkeiten. Mit dieser Verantwortung eng verknüpft sehe ich das Recht darauf, die eigene Existenz so zu gestalten, das sie angenehm und lebenswert ist. Natürlich unter Berücksichtigung der Rechte anderer. Das soll heißen, dass man seinen Vorstellungen nachgeben kann/darf/sollte, solange sie – auf den Punkt gebracht – niemand anderem Schaden zufügen. Natürlich ist allein dieser Punkt derart von Grautönen durchzogen, dass er einen weiteren Artikel nach sich ziehen könnte. Aber auch hier: nicht heute.

 

Meiner Meinung nach bedeutet die Verantwortung für das eigene Leben auch das Recht, es zu beenden, sofern der Wunsch danach besteht.

 

Ich weiß, dass diese Aussage, so pointiert, wie sie oben steht, schnell zur Entrüstung führt.

Lassen Sie es mich also genauer ausführen. Ich nehme Sie quasi mit auf eine kleine gedankliche Reise:

Soweit ich es im Blick habe, ist ein gewisses Verständnis für den Suizid in der Öffentlichkeit vorhanden, sofern der Betroffene aufgrund einer schweren Erkrankung mit einem endlosen Leiden ohne Hoffnung auf Besserung zu rechnen hat …

… vorausgesetzt, dass es sich dabei um ein körperliches Leiden handelt.

 

Auf den Punkt gebracht und auf eine persönliche Ebene gehoben, ausgedrückt:

Könnten Sie es Ihren Großeltern verdenken, wenn sie sich ein langes Siechtum aufgrund einer Krebserkrankung oder einer Demenz ersparen wollen? Oder ihren Eltern? Oder ihren Geschwistern?

Es muss nicht einmal ein aktiver Vorgang sein:

Würden Sie ein Familienmitglied an eine Herzlungenmaschine fesseln wollen, wenn es keinerlei Hoffnung auf Heilung gibt? Angenommen, ein Arzt tritt mit der Frage an Sie heran, ob Ihre Mutter (oder ihr Vater) an Geräte angeschlossen werden soll. Die Chancen ständen in diesem angenommenen Fall sehr hoch, dass es keine Besserung geben wird – nur eine Verlängerung des Leidens.

Würden Sie verneinen?

Ist es nicht eine Entscheidung, die wir alle mit gemischten Gefühlen treffen würden?

An dieser Stelle möchte ich – nur mal so als Anregung – darauf aufmerksam machen, dass es keine schlechte Idee ist, diese Frage beizeiten zu klären und bestenfalls schriftlich niederzulegen. Meine Familie weiß ganz genau, dass ich persönlich auf Gerätschaften verzichten möchte, wenn sie nicht der Heilung sondern lediglich der Verlängerung dienen können. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen zudem wärmstens einen Organspende-ausweis ans Herz legen. Ich selbst habe meinen an meinem 18. Geburtstag ausgefüllt und trage ihn seitdem immer bei mir. Auch wenn ein großer Teil der potentiellen Spender gar nicht erst für eine Organentnahme in Betracht gezogen wird … aber ich schweife ab.

 

Auf der einen Seite wollen wir nicht, dass uns die Familie nach und nach verlässt. Auf der anderen Seite finden wir es unerträglich, an ein Bett gefesselt zu werden, das wir nicht mehr verlassen können. Angeschlossen an Geräte, die für uns atmen und unser Blut zirkulieren lassen. Möglicherweise noch klar genug, um zu registrieren, dass wir nicht mehr Herr unseres Willens sind. Hinzu kommt: niemand darf das Gerät wieder abstellen, bis wir es endgültig geschafft haben, aus dem Leben zu scheiden. Sind wir ehrlich: dieses Siechtum wollen wir für uns nicht – und auch nicht für unsere Liebsten.

 

Verlassen wir jetzt Stück für Stück die Ebene, welche für die breite Masse nachvollziehbar ist.

Wenn der Wunsch nach dem Tod einleuchtend ist, sofern es um ein Leiden geht, das nicht mehr heilbar ist, wo ist eigentlich die Grenze zu ziehen?

Ist es in Ordnung, sich den gnädigen Tod zu wünschen, wenn sich ein Tumor beispielsweise am Hirnstamm gütlich tut und die Körperfunktionen nach und nach gekappt werden?

Ist es in Ordnung, aus dem Leben scheiden zu wollen, wenn man am Beginn einer Demenz steht? Sei es „nur“, damit man seine Verwandten nicht dazu verdammt, einem die Windeln zu wechseln, während sie dabei zusehen müssen, wie man unaufhaltsam immer weiter verfällt?

Ist es in Ordnung, sterben zu wollen, weil man an einer neurologischen Erkrankung leidet, welche nach und nach die Körperfunktionen und/oder kognitiven Fähigkeiten stiehlt? Denken sie an Amylotrophe Lateralsklerose (ALS). Kennen Sie nicht? Kennen Sie wohl, sofern Sie Stephen Hawking kennen. Denken Sie an Parkinson. Denken Sie an eine Prionenerkrankung (BSE/Kreuzfeld-Jakob).

Bis hierher teilen wir vielleicht noch die selbe Meinung. Sie werden mir eventuell noch zustimmen, dass es unter solchen Schreckensszenarien verständlich sein kann, dass man einfach nicht mehr möchte …

 

Aber:

Ist es für Sie in Ordnung, das Leben hinter sich lassen zu wollen, wenn Ihnen körperlich nichts fehlt?

Wieso sollte sich jemand ein Ende herbeiwünschen, wenn das Leben doch ohnehin schon viel zu kurz ist – und wir (je nach Religionsrichtung) zudem nur eines davon haben? Wieso also etwas beenden, das ein einmaliges Geschenk darstellt?

Wie wäre es mit Hoffnungslosigkeit? Mit Einsamkeit? Dem Gefühl, vor sich selbst fliehen zu wollen?

Ich rede von Depressionen. Ein Volksleiden, das sich seit Ewigkeiten in den Medien tummelt. Spätestens nachdem ein bekannter Torwart seinen letzten Zug genommen hat, wurde das Thema zum Hit.

Ich gehe jede Wette ein, dass Sie den ein oder anderen Menschen kennen, der an dieser Erkrankung leidet. Rein statistisch, selbstverständlich. Die genauen Zahlen sind mir nicht bekannt und ich werde sie jetzt nicht recherchieren. Eventuell reiche ich sie nach. Vielleicht nicht. Falls Ihnen Zahlen (nebst Quelle) bekannt sind, steht es Ihnen selbstverständlich frei, sie mir via E-Mail zukommen zu lassen.

 

Nun, ich kenne Menschen, die unter Depressionen leiden und ich habe das Glück, dass sie mir genug Vertrauen entgegen bringen, mir zu erklären, was es bedeutet, erkrankt zu sein.

Sehr, sehr vereinfacht:

Stellen Sie sich einen Tag vor, an dem Sie schon mit schlechter Laune aus dem Bett gekrabbelt sind. Sie fühlen sich müde, sie sind abgeschlafft. Nicht einmal ein guter Kaffee (oder Tee) kann Sie wirklich wecken. Dann tappsen Sie ins Bad und sehen sich im Spiegel. Ein Gefühl von „ich kenn dich nicht – ich wasch dich trotzdem“ kriecht in Ihnen hoch; Sie stieren sich in die Augen und Sie finden sich einfach „Bäh“. Der bloße Gedanke daran, dass Sie den Tag überstehen sollen, jagt Ihnen einen Schauder über den Rücken.

(Sofern Sie Glück haben. Mir wurde erzählt, dass Gefühle auch gänzlich fehlen können.)

Sie stellen fest, dass sich Ihre Gedanken immer wieder an ein Ereignis klammern, das für sich genommen noch nicht einmal besonders weltbewegend sein muss. Aber sie können nicht loslassen. Immer und immer wieder schleicht es sich ein. Oder es ist nur ein Gedanke. Reicht durchaus.

Sagen wir, Sie denken immer wieder „ich bin es nicht wert“ oder meinetwegen auch „ich hab keine Lust mehr“. Irgendwas – für sich genommen – eigentlich harmloses. Nicht erfreulich, sicherlich; aber harmlos.

Ich bin mir sicher, Sie kennen solche Gedanken. Ich würde mich wundern, wenn nicht. Eventuell haben Sie sie nicht einmal wirklich bemerkt, weil sie sich ebenso schnell verflüchtigt haben, wie sie gekommen sind.

Was ich sagen will: jeder hat mal einen Durchhänger.

Aber meistens verschwindet er schnell wieder.

Stellen Sie sich jedoch vor, dieser postulierte, verkorkste Tag ist nicht der einzige. Stellen Sie sich vor, er wiederholt sich. Der nächste Tag verläuft genauso bescheiden. Der Tag danach ebenfalls und der Tag danach …

Dauert der „Spaß“ ein paar Wochen, wäre es an der Zeit einen Arzt um Rat zu fragen.

 

Die Pharmaindustrie hat ein buntes Potpourri bei der Hand, das gegen die langen Stimmungstiefs helfen soll. Die Pillen oder Tropfen oder was-weiß-ich wirken sogar. Selektive Serotonin Aufnahmeblocker (SSRI) beispielsweise sorgen dafür, dass der fehlende Stoff (Serotonin), längere Zeit im synaptischen Spalt verbleibt und die Betroffenen dazu befähigt, sich besser zu fühlen.

Dummerweise ist die Suche nach dem „richtigen“ Medikament jedoch eine Sisyphusarbeit. Menschen sind Individuen, daher reagieren sie individuell auf die Wirkstoffe. Was dem einen hilft, muss nicht zwingend Auswirkungen bei dem nächsten haben. Oder aber man findet ein Medikament, das die Grundstimmung hebt und den Antrieb steigert – aber dummerweise Nebenwirkungen auslöst, die das neugewonnene Leben extrem einschränken. Lange Rede, kurzer Sinn: die Suche fordert Geduld und Durchhaltevermögen. Das sind Eigenschaften, die während einer depressiven Phase nicht zwingend vorhanden sind. Dazu kommt noch die Gefahr, dass eine Besserung, so sie denn endlich eintritt, dazu verführt, die Medikation eigenmächtig abzusetzen. Großer Fehler. Der Absturz lässt zwar eine Weile auf sich warten, schlägt aber mit Sicherheit und unbarmherzig zu.

Ich könnte mich jetzt hinsetzen, recherchieren und ein paar Details einfügen, aber wissen Sie was? Nicht heute. Falls Sie sich für Antidepressiva interessieren, könnten Sie es hier versuchen.

Die chemische Hilfe reicht in der Regel zudem nicht aus. Eine Therapie ist ebenfalls angeraten. Aber auch hier gilt, dass es nicht zwingend so einfach ist, wie man es sich wünscht. Am Anfang steht die Suche nach einem geeigneten Therapeuten. Das kann sehr lange dauern. Ich rede nicht einmal von den Wartelisten, die bis zu einem halben Jahr lang sein können, sondern davon, dass eine Vertrauensbasis notwendig ist, damit eine Therapie fruchten kann. Man kommt nun einmal nicht mit jedem Menschen klar – und das gilt auch für Therapeuten. Also geht die Suche weiter.

 

Jedenfalls: dem Grauen einer Depression schnellstmöglich zu entkommen, kann sicherlich sehr reizvoll sein und ein Suizid wäre … schnell.

 

Tabletten nehmen, Augen schließen. Nicht mehr aufwachen … noch ein Wortspiel: Easy going.

 

Lange Absätze, kurzer Sinn: würden Sie es für vertretbar halten, wenn sich jemand das Leben nimmt, „nur“ weil er lange Phasen der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung in sich spürt?

Ich sage: ja.

 

Ob ich dafür bin, dass Menschen mit einer Todessehnsucht Unterstützung insofern geboten wird, dass sie ihr Leben beenden können?

Unbedingt und definitiv: ja.

Mir sind die Gegenargumente bekannt. Insbesondere die Sorge davor, dass die Hilfe zum Suizid zu einem puren Geschäft verkommt, kann ich verstehen und ich teile sie.

Dennoch überwiegen aus meiner Sicht die Vorteile:

 

* Es scheint mir sicherer zu sein, sich an einen Vertrauensarzt zu wenden, statt mit der Hausapotheke oder anderen Hilfsmitteln herumzuexpermimentieren. Sterben kann qualvoll sein. Zumal die Gefahr besteht, den Suizid zu überleben und durch den vergeblichen Versuch nachhaltig geschädigt zu werden.

* Eng damit verbunden sind die Konsequenzen für direkt und/oder indirekt Betroffene. Nehmen wir noch einmal den Torhüter, der den Zug nicht halten konnte. Auch wenn er in diesem Moment wohl nicht anders konnte, als egoistisch zu handeln (das meine ich wertfrei), so darf nicht vergessen werden, dass der Zugführer für sein weiteres Leben gezeichnet ist.

* Durch eine Beratung/Begleitung kann die Gefahr einer Kurzschlussreaktion ausgeschlossen werden. Eventuell werden Probleme sogar gelöst und es kann nachhaltig zu einer Verbesserung der Lebensqualität kommen, was einen Suizid abwendet.

* Suizide, welche als Hilfeschrei gemeint sind, könnten als solche erkannt und abgewendet werden. Wobei ich einräumen muss, dass der prozentuale Anteil sehr gering sein dürfte, was an der Natur des „Hilferuf-Suizides“ liegt. Suizidversuche sollen schließlich nicht erfolgreich sein, sondern Aufmerksamkeit erregen.

* Das Scheiden aus dem Leben kann vorbereitet werden. Emotionale und materielle „Baustellen“ können daher noch bearbeitet werden. Ein Testament beispielsweise oder ein paar letzte Worte. Wussten Sie, dass viele Suizidenten keine Abschiedsbriefe hinterlassen? Wahrscheinlich haben sie in dem Moment (oder in den Wochen davor) keinen Kopf dafür. Verständlich, aber sehr schade. Ich könnte mir vorstellen, dass viele Hinterbliebenen für Antworten auf ihre Fragen (vor allem nach dem „Warum“) dankbar wären.

* Eine Selbsttötung im stillen Kämmerlein birgt die Gefahr in sich, dass die sterblichen Überreste erst spät entdeckt werden. Wissen Sie, was mit einem Körper passiert, sobald er nicht mehr lebt? Und wie schnell das geht? Ohne Sie mit Einzelheiten zu entsetzen, lassen Sie es mich so ausdrücken: der Abschied an einem geöffneten Sarg ist in einem solchen Fall nicht angeraten. Eine Einrichtung, die ein begleitetes Selbsttöten ermöglicht, verhindert ein durchaus traumatisches Auffinden der Leiche.

* Und nicht zu vergessen: eine unterschätzte Problematik sehe ich darin, dass nicht nur die Familie (sofern vorhanden und intakt), sondern auch Freunde vom Tod unterrichtet werden sollten. Ich plädiere daher für eine Liste, die im Vorfeld aufgestellt werden sollte. Das mag zwar nebensächlich erscheinen, aber ich versichere Ihnen, wenn sie „nur“ ein Freund sind, wünschen Sie sich im Fall eines Suizides durchaus die Möglichkeit, unterrichtet zu werden – statt in der Weltgeschichte herumtelefonieren zu müssen (Polizei, Krankenhaus), um die traurige Nachricht zu erfahren.

 

 

Um diesen langen (etwas unstrukturierten Text) abzuschließen, möchte ich noch eine weitere Facette ansprechen:

selbst wenn Sie einem Menschen das Recht auf Selbstbestimmung bis in die letzte Konsequenz nicht zugestehen wollen … wie, bitte schön, wollen Sie es verhindern?

 

Sie können nicht rund um die Uhr auf einen Suizidenten aufpassen. Selbst in einer professionellen Einrichtung (Psychiatrie/Klinik) sind den Fachkräften Grenzen gesetzt. Man denke zudem daran, dass ein suizidaler Mensch auch irgendwann wieder entlassen wird …

 

… so wie mein Freund. Aus Gründen der Pietät und auf Hinblick dessen, dass ich zu wenig über die wahren Umstände weiß, nur dieses:

Obwohl wir grade in diesem einen Punkt unterschiedlichster Auffassung waren, wünsche ich Dir, dass Du Recht hattest, und deine sieben Gramm endlich die Ruhe gefunden haben, die Du Dir so lange gewünscht hast, M.

 

 

 

 

25./26.11.2014