Lebendigkeit im Manuskript
oder: wie krieg ich Leben in die Bude?
inspiriert durch Michael Robothams "Adrenalin"
Zur Zeit (Okt. 2012) lese ich den Roman "Adrenalin" von Michael Robotham. Während ich gestern im Bad entspannte und mich vom Autor in seine Welt entführen lies, habe ich meine Gedanken schweifen lassen und mich gefragt: verdammt! Wie macht der das nur?
Naja. Ganz so nicht. Aber so ähnlich.
Ich hole an dieser Stelle etwas weiter aus.
Sie haben sicherlich schon einmal in Schreiberforen oder in Ratgebern für Jungautoren gelesen, dass es sinnvoll ist, sich Bücher zu schnappen und genau zu schauen, was sie im Leser auslösen anschließend genau zu sezieren, wie der Autor das gemacht hat.
Nun. Ich bin weder in reinen Schreiberforen unterwegs, noch lese ich diese Ratgeber. Dennoch habe ich von diesem Trick gehört. Wie auch immer: ich habe mir zwar nicht angewöhnt, jedes Buch auseinander zu nehmen (es sei denn, ich will es rezensieren ^^), allerdings ich habe im Studium und während meiner Zeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin gelernt, aufmerksam Paper (= wissenschaftliche Aufsätze) zu analysieren. Als Wissenschaftler ist man nämlich schnell damit konfrontiert, dass jeder Idiot seinen Mist verzapfen darf. (Aber zu diesem persönlichen Trauma komme ich eventuell später einmal.) Und da Unmengen an zweifelhaften Veröffentlichungen auf dem Markt sind, ist man gezwungen schnell zu entscheiden, ob der Inhalt irgendeinen Wert darstellt. Je schneller diese Entscheidung getroffen werden kann, desto besser.
Wozu soll das ganze gut sein?
Warum soll ich mir die Mühe machen genau zu analysieren, wie ein Autor seine Werke verfasst hat?
Es ist ein Lernprozess.
Indem ich mir die Frage nach dem "wie" stelle, zwinge ich meinen Grips dazu, nach Lösungen zu suchen. Je öfter ich das mache, desto leichter fällt es mir später den Stil des ein oder andern Textes zu imitieren. Und von dort aus kann ich mich dann weiterhangeln und meinen eigenen Stil entwickeln.
Nichts anderes passiert übrigens wenn man die Malerei erlernt: man ahmt nach. Ich kann mir nur vorstellen, wie viele Kunststudenten durch den Louvre gezogen sind - bewaffnet mit Feldstaffeleien, Pinseln und Farben -, um sich von den alten Meistern etwas beibringen zu lassen, obwohl besagte Meister schon lange tot sind.
Wenn man erstmal den Stil eines anderen Malers imitieren kann, dann kann es sein, dass man das Glück hat sich weiter zu entwickeln. Abmalen ist ein reines Handwerk. Erst wenn man sein Handwerk für eine eigene Idee verwendet, dann ist es Kunst.
So ähnlich sehe ich es mit dem Schreiben: Stil nachmachen ist Handwerk. Stil ausbilden und eine eigene Idee verfolgen ist Schriftstellerei.
Genauso wie es Künstler gibt, die "gefällige" Kunst abliefern (Portraits, Landschaften, den röhrenden Hirsch) gibt es Künstler, die es (ansatzweise) mit einem Leonardo daVinci aufnehmen können.
Schriftsteller sind nicht anders: jemand der sein Handwerk beherrscht, kann Groschenromane erschaffen - oder Literaturnobelpreisträger werden.
Beide Formen haben ihren Markt und ihre Berechtigung.
Zurück zum eigentlichen Thema:
Gestern las ich also das Buch (sehr spannend bisher)-
In einer Szene wandern der Protagonist (Joe O'Loughlin, Psychologe) und ein Polizist (Ruiz) einen Leichenschauhausflur entlang, um die Kühlkammer zu erreichen.
Beide unterhalten sich. Schon allein das sorgt schon für eine gewisse Lebendigkeit.
Als Kind fand ich Bücher ohne wörtliche Rede doof.
Warum? Ich nehme an, ich hatte damals instinktiv erfasst, dass mit wörtlicher Rede etwas erreicht werden kann, was die reine Erzählung nicht schafft: den Leser in die Szene hineinzusaugen. Spannung reinzubringen. Meinungen einzubinden. Konflikte zu schüren (oder zu lösen) ...
Kurzum: Sprache transportiert Leben.
Also: Joe und Ruiz wandern und reden. Das ist schon recht spannend. Nicht das Wandern an sich (obwohl es eine gewisse Dynamik der Protagonisten vermittelt), sondern das Gespräch.
Ruiz hat Joe gebeten, sich eine Leiche anzusehen. Den Weg zur Kühlkammer nutzt Joe, um sich ein erstes Bild zu machen. Fragen, die ich mir selbst zu der Toten gestellt habe, hat der Protagonist stellvertretend für mich gestellt. Die Antworten waren kurz, informativ und prägnant. Ab und an gabs ne humorvolle Anspielung, manchmal hat der Polizist seine eigene Meinung zum Besten gegeben. Manchmal hat er geschwiegen. Manchmal gestutzt. Und Robotham hat seinen Protagonisten seine eigenen Beobachtungen als Erzähler schildern lassen. Seine Interpetationen zu dem was gesagt wurde - und zu dem was nicht gesagt wurde.
Ein Gespräch also, wie es Menschen tatsächlich führen.
Schweigen wir nicht auch manchmal mitten in einer Unterhaltung?
Interpretieren wir nicht auch?
Werden wir nicht auch stutzig, wenn etwas "ungesagt im Raum hängt"?
Die Sprache, die Robotham verwendet ist recht alltäglich. Weder gekünstelt noch zu flappsig. Finde ich jedenfalls. Das ist aber eine Sache, die jeder für sich selbst entschieden muss, ob er die Sprache einer Romanfigur gesteltzt findet oder nicht. Das hängt sehr damit zusammen, in welchem Umfeld man sich bewegt. Mir jedenfalls gefällt Robothams Art und Weise Fachtermini mit Kraftausdrücken zu vermischen. So rede ich selbst nämlich auch ^^
Das fand ich bisher also alles schon wirklich gut gelöst.
Dazu kommt noch, dass Robotham seine Protagonisten nicht nur reden lässt, er lässt sie auch Gesten machen. Nichts übertriebenes. Ein Stirnrunzeln vielleicht. Meistens lässt Robotham die Gestiken unkommentiert (der Leser soll ja schließlich auch was zu tun haben), aber manchmal garniert er sie wieder mit einer Interpretation:
"Ich hebe den Kopf und sehe für einen Moment sein in dem Stahl gespiegeltes Gesicht. In diesem Augenblick erkenne ich es: Angst. Er muss schon Dutzende von Verbrechern untersucht haben, aber dieses ist anders, weil er es nicht versteht."
Dann schenkt der Autor seinem Protagoniten Joe noch eine Vergangenheit, und flechtet sie immer wieder in kurzen Absätzen ein. Nichts besonders langes. Nichts aufwändiges. Nichts, das einen aus dem Tritt bringt, als den Lesefluss unterbrechen könnte. Das ganze garniert er noch mit einem leisen Humor:
""[...] Daraufhin wählte mich der Dozent aus, dem Kurs zu demonstrieren, wie man bei einer Biopsie eine 150-mm-Nadel durch den Unterleib in die Leber stößt. Anschließend gratulierte er mir zu einem neuen Universitätsrekord im Durchstechen möglichst vieler Organe in einem Anlauf."
Sie haben es sicher beim Durchlesen des ersten Zitats bemerkt: Michael Robotham schreibt seine Bücher im Präsens (Gegenwartsform). Das ist in sofern erwähnenswert, weil Romane in der Regel im Präteritum (Vergangenheitsform) verfasst sind. Es hat mich im ersten Buch, das ich von Robotham gelesen habe ("Dein Wille geschehe", 4. Band um O'Loughlin), einige Zeit gekostet, um mich daran zu gewöhnen, das gebe ich zu.
Das Präsens bietet jedoch die Möglichkeit, sich ganz nahe an der Szene zu bewegen. Denn alles was beschrieben wird, passiert schließlich "jetzt".
Das gefällt mir wirklich gut, auch wenn es erst etwas gewöhnungsbedürftig ist.
Dann erzählt Robotham den Roman aus Joes Sicht, indem er die erste Person Singualar verwendet ("ich"). Alles was geschieht sieht der Leser also durch Joes Augen. Man könnte also sagen - auch wenn der Vergleich seltsam erscheinen mag - der Leser befindet sich in einem first-person-game. Für diejenigen übersetzt, die nicht so häufig Computerspiele zocken: der Leser liest ein Buch, das sich eines ähnlichen Tricks bedient wie es in zum Beispiel in Egoshootern der Fall ist. Nichts ist im Weg und versperrt die Sicht.
Der Leser ist unmittelbar dabei. Das erhöht die Spannung.
Kommen wir zu dem, was mich zu diesem Artikel verleitet hat:
"Ruiz überreicht der Frau hinter dem Tresen einen Brief.
"Soll ich eine komplette Leichenschau veranlassen?"
"Der Kühlschrank reicht", erwidert er, "aber ich brauche eine KT." Sie gibt ihm eine große braune Papiertüte."
Die Frau am Tresen wurde weiter vorn im Text in zwei, drei weiteren Sätzen eingeführt. Sonst spielt sie keine Rolle.
Es geht eigentlich nur darum, dass Ruiz und Joe am Tresen vorbei die Abteilung wechseln. Das hätte Robotham auch so schreiben können:
"Ruiz und ich gehen am Tresen vorbei und betreten Abteilung YXZ."
Er hätte auch ganz darauf verzichten können. Was interessiert den Leser, wo sie lang laufen? Was juckt es ihn, ob da ein Tresen ist oder nicht? Es hätte auch eine Tür mit einer Chipkarte gereicht, wenn es darum gehen sollte, dass der Abschnitt nur für Personal zugänglich ist. Dafür hätte es keinen Tresen gebraucht, an dessen Fenster ein Schild hängt, auf dem steht "Zutritt nur für Personal".
Warum begeistert mich die Szene also?
Weil sie "echt" ist. Weil ich es mir vorstellen kann, dass so ein Bereich, in dem immerhin Leichen aufbewahrt werden, abgesichert ist, so dass nicht jeder Hinz und Kunz seiner verstorbenen Oma einen Besuch abstatten kann. Es überzeugt mich, dass jemand dafür bezahlt wird, dort zu sitzen und ein wenig Acht zu geben. (Mal ganz abgesehen davon, dass ich keinen Schimmer habe, welche Aufgaben die Frau noch hat.)
Und - und da komme ich jetzt zum eigentlichen Kern - Ruiz und sie unterhalten sich. Drei Sätze. Mehr nicht. Das hätte sich Robotham alles schenken können. Aber hätte er es getan, dann hätte eventuell etwas gefehlt. Ohne, dass es dem Leser aufgefallen wäre, was gefehlt hat.
Kennen Sie das nicht auch? Sie lesen ein Buch bis zum Ende, und eigentlich hat es Ihnen gefallen, aber irgendetwas war nicht rund? Irgendetwas fehlte? Vielleicht war es ja das?
Ein paar Szenen, die mit dem Geschehen nichts zu tun haben, die aber dafür sorgen, dass der Leser mitbekommt, dass die Protagonisten nicht allein durch die Welt des Autors springen.
Oh, das ist natürlich keine neue Erkenntnis. Das sind Stilmittel, die schon sehr alt sind (nehme ich an - ich werde recherchieren).
Das wird auch in Filmen gemacht. So gesehen also nichts besonderes. Wieso behellige ich Sie also mit ollen Kamellen?
Es ist mir gestern im Badezimmer wie Schuppen aus den Haaren gefallen, wie wichtig diese Kleinigkeiten sind:
"Hä? Wer ist jetzt die? Was macht die da? Was soll das? ... AH!!!"
Und ich teile meine Aha-Erlebnisse nun einmal gerne mit Ihnen :-)
Es grüßt Sie
Marina Clemmensen
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