Ein kurzer Gedankenblitz zur Zeit

oder: wie kriege ich dem Leser beigebogen, wie viel Zeit vergangen ist?

Vorzugsweise, ohne dass er sich bevormundet fühlt ...

 

... oder noch mal anders ausgedrückt:

Wie bringe ich dem Leser bei, dass für die Charaktere Zeit vergangen ist - und das auch noch möglichst elegant?

 

Ich habe gerade Triffids laufen. Schon wieder. Also nachdem ich die Rezension zu diesem Film fertig gestellt hatte, habe ich einfach noch einmal auf "play" gedrückt. (Ist so eine Marotte von mir - gute Filme laufen mehrfach hintereinander.)

 

Wäre prinzipiell nicht so wichtig für das, was ich zu erzählen habe, aber es gab eine Szene, die mich darauf gebracht hat, mich der Zeit-Thematik in Erzählungen zu widmen. Weil es in dem Film wirklich elegant gelöst wurde.

 

Aber da ich mir das Beste für den Schluss aufheben möchte, müssen Sie jetzt erst einmal durch die weniger eleganten Lösungen durch.

 

Also:

Nehmen wir an, es gab ein Ereignis A und dann ein Ereignis B.

Zwischen den beiden Ereignissen liegt eine Zeitspanne Delta t.

 

Wie kann ich möglichst einfach und ohne langweilig zu sein, dem Leser vermitteln, dass ... sagen wir mal ... ein Monat verstrichen ist, in dem nichts relevantes passierte?

 

Die einfachste Form wäre wohl diese hier:

Es verging ein Monat, ohne dass etwas relevantes passierte.

Laaaangweilig.

Obwohl es alle Informationen enthält, die mir wichtig waren.

 

Die Alternative wäre ein sprachliches Aufhübschen der Umstände:

Ein Monat strich ins Land, in dem sich nichts (weiter) zutrug.

Klingt zwar netter, finde ich aber immer noch langweilig.

 

Versuch drei:

Binden wir die wörtliche Rede ein. Protagonist 1 spricht zu Protagonist 2.

"Jetzt ist schon ein Monat vergangen, und nichts ist passiert."

Finde ich zwar schon etwas geschickter (weil ich alles geschickt finde, das die Protagonisten sagen oder tun, und somit der Erzähler nicht erklären muss), aber - Sie ahnen es -  es ist langweilig!

Und darüber hinaus noch unglaubwürdig. Wer bitte spricht denn so?

 

Auch hier könnte ich natürlich aufhübschen:

"Weißt Du", sagte Protagonist 1, als er sich sicher war, dass er die volle Aufmerksamkeit von Protagonist 2 hatte, "jetzt ist schon (wieder) ein Monat ins Land gestrichen, ohne dass etwas geschehen ist."

Jetzt habe ich zwar die Sprache variiert und auch eingefügt, dass es Protagonist 1 wichtig ist, dass Protagonist 2 seinen Unmut über die Ereignislosigkeit mitbekommt ... aber ist das aufregend? Ist das spannend? Ist das gar elegant? Äh, nein.

 

Wie wäre es denn damit, dass die Protagonisten zwar noch immer miteinander reden, aber die Zeitspanne anders bezeichnet wird?

"Weißt Du", sagte Protagonist 1 als er sich sicher war, dass er die volle Aufmerksamkeit von Protagonist 2 hatte, "jetzt sind fast vier ereignislose Wochen ins Land gegangen."

Ich habe mir erlaubt den Monat in vier Wochen zu verwandeln und den Nebensatz in den Hauptsatz zu integrieren. Klingt gar nicht mal sooo schlecht. Aber hat es tatsächlich eine Veränderung gegeben?

Nein. Oder?

 

Ich finde, dass es manchmal sehr viel aufregender ist, Zeitspannen zu umschreiben. Sie durch etwas zu ersetzen, das dem Leser vertraut ist. So dass er gezwungen wird, seinen Grips anzustrengen. Sozusagen ein Mini-Rätsel zu bieten.

Wie wäre es damit?

"Sieh dir mal die Bäume an", sagte Protagonist 1 und schaute aus dem Fenster, "die ersten Blätter sprießen."

Jetzt wüsste der Leser in etwa, in welcher Jahreszeit sich die Protagonisten befinden. Frühling.

Um den zeitlichen Abstand zu kennzeichnen, brauchen wir noch den "Anfangswert". Also könnte Protagonist 2 sagen:  

"Ja, als ich das letzte Mal hier gestanden habe, war noch alles kahl und der Schnee lag Knöchelhoch."

Gut. Das würde vorraussetzen, dass die Protagonisten zwischendurch die Lokalität gewechselt haben. Denn es wäre unwahrscheinlich, dass sie nur einmal im Monat am Fenster stehen.

Insgesamt ist diese Angabe allerdings schwammig. Stellt sich also die Frage: ist es überhaupt wichtig, wie lang die Zeitspanne war? Muss sie exakt einen Monat betragen? Reicht nicht ein ungefährer Wert? Irgendwas zwischen zwei Wochen und zwei Monaten? Dann wären kahler Bäume und ausschlagende Bäume vielleicht nicht so falsch gewählt.

Alternativ könnte auch weiter vorn im Text einmal erwähnt werden, dass Schnee gefallen ist, damit der Leser weiß, dass Winter war. Gefällt mir persönlich sogar besser. Zwingt es den Leser doch dazu, aufmerksam zu lesen. Glauben Sie mir: wenn er ein, zwei Mal im Buch zurückgehen musste, um Hinweise zu finden, die er bisher schlichtweg übersehen hatte (weil er abgelenkt war, weil er quer gelesen hat, weil er nicht damit gerechnet hat, dass man ihn ein Wenig aufs Glatteis führen möchte), dann wird er in Zukunft näher beim Text sein. Und das ist ein Gewinn für beide Seiten.

(Solange es nicht übertrieben wird! Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich beim dritten oder spätestens vierten Mal Seitenrückblätterei genervt bin.)

 

Komme ich nun auf die Szene in "Triffids" zu sprechen:

Zwei elternlose Geschwister werden vom Helden aufgelesen und zusammen mit seiner Heldin quasi "adoptiert."

Nächste Einstellung: die Kinder spielen draußen mit ihrem Gewehr.

Die eine Schwester sagt zur anderen: "Mutti wäre stolz auf dich."

Schön ...? Oder auch nicht. Ich finde ja, dass Kinder und Waffen nicht zusammen in einem Raum sein sollten. Geschweige denn, dass ein Kind so ein Ding in der Hand hat. Aber das tut hier nichts zur Sache. Und außerdem handelt es sich um einen Böse-Pflanzen-fressen-wehrlose-Menschen-Thriller. Da darf ruhig eine Ausnahme gemacht werden.

Aber zurück zur Szene:

Schwester eins sagt: "Mutti wäre stolz auf dich."

Und ...? Bisher nichts Außergewöhnliches. Selbst dann, wenn man bedenkt, dass die leibliche Mutter wohl verstorben ist.

Jetzt kommt aber der Clou: Die zweite Schwester beschwert sich umgehend mit: "Das sind nicht unsere Eltern!"

Was sagt uns das? Es geht nicht um die leibliche Mutter!

Die protestierende Schwester hat den Helden und die Heldin zwar noch nicht als Elternersatz aktzeptiert - die (jüngere) Schwester aber sehr wohl.

Das lässt nur einen Schluss zu: es muss Zeit vergangen sein. Wie viel? Schwer zu sagen. Zwei Wochen? Vier? Sechs? Ist es überhaupt wichtig? Wichtig ist, dass dem Zuschauer mit zwei kleinen Sätzen in einer winzig kleinen Einstellung eine Menge an Informationen geboten wurde:

 

"Mutti wäre stolz auf dich."

"Das sind nicht unsere Eltern!"

 

Das Ganze wurde noch von einer Narbe verstärkt, die auf der Schläfe des Helden prangt. Sie ist im Vergleich zur letzten Einstellung vor dem Geschwisterstreit, danach deutlich verblasst.

 

Beides hätte eventuell auch für sich allein funktioniert. Aber auf die Narbe habe ich erst geachtet, als sich die Kinder in den Haaren hatten. Denn dann hatte ich plötzlich einen Grund dazu, auf Kleinigkeiten zu achten, die meinen Verdacht ("Oh? Eltern? Wie jetzt? Zeit vergangen? Muss wohl, was?") bestärkt oder falsifiziert hätten.

 

Ich fand das beeindruckend. Beeindruckend genug jedenfalls, um hier einen kleinen Artikel zum Thema Zeit auf meine Internetseite zu stellen.

 

 

Es grüßt Sie

 

Marina Clemmensen

 

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