Rache

erste Fassung

entstanden Ende August 2012

(c) Marina Clemmensen

 

Leidlich vorbereitet sitzt sie in ihrem alten Ford Fiesta. Sie fröstelt. Obwohl die Heizung auf dem Weg hierher die ganze Zeit dröhnend gelaufen ist, ist Marcella kalt. Die junge Frau verrenkt ihren Hals, um durch die Windschutzscheibe hindurch auf das Haus gegenüber blicken zu können. Hinter dem rechten Fenster ganz oben im dritten Stock kann sie Licht sehen. Eine Gardine verdeckt die Sicht, deshalb ist nur ab und an ein sich bewegender Schatten zu erkennen. Marcella weiß, dass >er< alleine wohnt. Es kann also nur >er< sein, der dort in der Küche – sie vermutet jedenfalls dass es die Küche ist – hin und her läuft.

>Plagt dich das schlechte Gewissen?<, denkt sie düster. Ein schlechtes Gewissen ist das Mindeste! Aber gleichzeitig weiß sie, dass es nicht so ist. >Er< hat ganz sicher kein schlechtes Gewissen!

Ihre Hand streicht über ihre rechte Wange. Betastet behutsam die fast zehn Zentimeter lange Verletzung, die unter einem Verband verborgen liegt, und die erst langsam zu heilen beginnt. Bald wird sich die dicke Kruste lösen und abfallen. Und auf Marcellas bleicher Haut, auf der sich immer dann, wenn sie aufgeregt ist, unschöne rote Flecken bilden, wird eine Narbe zurück bleiben. Eine Narbe, die sie für den Rest ihres Lebens daran erinnern wird, was >er< ihr angetan hat.

Ihre Finger lösen den Kontakt zu ihrem geschundenen Gesicht, suchen, ohne dass Marcella ihren Blick vom Haus löst, nach dem Griff der Waffe.

 

Es war kaum eine Woche her.

Sie war so unvorsichtig gewesen, sich nach einem Kinobesuch alleine und zu Fuß auf dem Weg nach Hause zu machen. Sie hatte ihrer Freundin Gabi zum Abschied gesagt: „Was soll schon passieren? Ich bin in dieser Gegend groß geworden. Ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe.“ Dann hatte sie gelacht. „Außerdem: sehe ich nach Geld aus?“

Die Möglichkeit, dass ihr etwas schlimmeres als ein Diebstahl passieren könnte, hatte sie gar nicht erst in Erwägung gezogen. Sie wirkte nicht auf Männer. Sie war viel zu unscheinbar. Etwas zu dick, ein wenig zu klein, dafür die Nase zu groß, und die Haut von schlecht verheilter Akne gezeichnet. Sie war diejenige, die auf Parties grundsätzlich übersehen wurde. Diejenige, die ihre Freundinnen auch deshalb gerne bei sich hatten, weil sie selbst im direkten Vergleich zu ihr noch ein bisschen attraktiver wirkten. Marcella hatte sich daran gewöhnt. Sie bildete sich ein, dass es ihr schon längst nichts mehr ausmachte. Schließlich kannte sie es gar nicht anders.

Und genau deswegen war sie so überrascht gewesen, als >er< sie angegriffen hatte.

Es hatte damit begonnen, dass Marcella eine Abkürzung gewählt hatte. War es nicht immer so? Waren es nicht immer die Opfer, die es den Tätern leicht machten, weil sie so dumm waren, eine abgelegene, dunkle Straße zu wählen?

Sie hatte hinter sich Schritte gehört, sich aber nichts dabei gedacht.

Dann kamen die Schritte näher. Sie öffnete instinktiv ihre Umhängetasche und griff unter den Deckel. Ihre Finger schlossen sich um die Münzrolle. Marcella verzog ihren Mund zu einem schiefen Lächeln. Es war lächerlich, dieses mit fünfzig-Cent-Stücken gefüllte Papier mit sich herumzuschleppen. Und noch viel lächerlicher war es, dass sie jetzt ihre Hand darum schloss. Aber eine ihrer Bekannten hatte ihr einmal erzählt, dass eine Münzrolle eine effektive Waffe darstellen konnte. Effektiver als Pfefferspray oder gar ein Messer, denn beides konnte ihr entrissen und gegen sie verwendet werden. Das, so hatte ihre Bekannte behauptet, stand irgendwo auf einer einschlägigen Internetseite. An diesen Tipp hatte Marcella gedacht, als sie vor einigen Monaten ihre gesparten Münzen zur Bank gebracht hatte, und daraufhin einfach diese eine Rolle zurück behalten. Warum nicht?

Die Schritte hinter ihr beschleunigten. Marcella fühlte wie ihre Kiefermuskeln verspannten. Ihre Augen kniffen zusammen, während sie sich dazu zwang, sich nicht umzusehen. >Wozu auch?<, versuchte sie sich zu beruhigen, >Da läuft jemand die Straße entlang. Na und?<

Trotzdem bemerkte Marcella, dass ihr die kühle Schwere in ihrer Handfläche ein beruhigendes Gefühl gab, während sie bemüht ruhig weiter durch die Straße ging.

„Hey Tussi“, grollte eine Männerstimme hinter ihr.

Marcella blieb erschrocken stehen, hielt den Atem an.

„Ja, du! Tussi!“ ein bedrohliches Lachen. „Wie wärs mit uns beiden?“

Marcella traute sich nicht sich zu bewegen. Sie hätte wegrennen, sie hätte zumindest die bewehrte Hand aus der Tasche ziehen sollen - aber sie tat nichts.

Die Schritte waren jetzt ganz nahe. Hielten inne.

Eine schwere Hand legte sich auf ihre Schulter. Presste die Finger durch ihren Mantel hindurch. Marcella kam es vor, als würden glühende Zangen bis auf ihre Knochen brennen.

Die Hand zwang sie herum.

„Ach du Scheiße!“ Der Mann, dessen Gesicht sich sofort in ihr Gedächtnis brannte, sich unauslöschlich in jede einzelne ihrer Nervenzellen fraß, verzog angewidert seine Mundwinkel. „Wat bis du denn für eine?“

Er nahm seine Hand von ihrer Schulter herunter und wischte sie an seiner Jogginghose ab. „Leck mich! Nee! Selbst wenn du die letzte Fotze auf der Welt wärst. Echt nicht.“ Er grölte und trat einen Schritt zurück. „So ne Ekelfresse hab ich ja noch nie gesehen!“

Marcella überrollten heiße und kalte Wellen. Es war unfassbar: aber sie schämte sich!

Und dann schlug die Scham in Wut um.

Ihre Finger verkrampften um die Rolle. Sie riss nicht einmal die Hand aus der Tasche, als sie ausholte. Der Länge des Gurts ließ es gerade so zu, dass sie ihn mit voller Wucht gegen die Brust traf und sein widerliches Lachen erstarb.

„Fotze!“ keuchte er. „Miststück!“

Dann stieß er sie von sich. Hart schlug sie auf den Boden. Sie fühlte ihre Wange aufplatzen, während er sich fluchend davon machte.

 

„Ich würde nich zur Polizei gehen“, sagte Gabi, ihre Freundin, mit der sie im Kino gewesen war, und die sie in Tränen aufgelöst mit ihrem Handy angerufen hatte. Marcella musste das Telefon an das linke Ohr halten, weil ihre rechte Seite blutete und bereits anschwoll. „Geh lieber zur Notaufnahme. Lass das nähen.“

„Wieso nicht zur Polizei?“, stammelte Marcella. Ihre Stimme klang schleppend, weil sich ihr Mund taub anfühlte.

„Na hör mal. Ich sag dir, was die machen: gar nix. Die werden was von Geringfügigkeit faseln und gut is. Vielleicht machen die ne Akte. Aber nur, weils Vorschrift is. Mehr passiert nich. Und mal ehrlich: Was willst du denen überhaupt sagen? Dass dich der Typ nicht mal anfassen wollte? Außerdem hast du den zuerst angegriffen. Wenn du Pech hast, dann hängt der dir noch ne Anzeige an. Echt, Marcella. Geh lieber ins Kranken …“

Marcella legte wortlos auf. > … nicht mal anfassen wollte.<

 

Sie hatte versucht die Demütigung zu vergessen. Sie hatte versucht diese Nacht abzuwaschen. Sie hatte sich, nach dem sie sich hatte nähen und eine Tetanusspritze hatte geben lassen, in die Wanne gelegt und gewartet, bis ihre Haut verschrumpelt war, ehe sie sich ins Bett geschleppt hatte. Sie hatte nicht schlafen können. Sie hatte immer wieder den entsetzten Gesichtsausdruck von diesem … herzlosen Monstrum vor Augen gehabt.

Natürlich hatte sie Glück gehabt, dass er nicht über sie hergefallen war. Natürlich hatte sie Glück gehabt, dass er sie nicht vergewaltigt oder sogar getötet hatte.

Dennoch konnte sie sich nicht davon lösen, was geschehen war. Sie konnte es nicht ertragen, dass er sie ungestraft so schrecklich verletzt hatte.

Und dann hatte sie damit begonnen ihn zu suchen. Sie war wieder in die Nähe des Kinos gegangen. Sie hatte ihre Freizeit damit verbracht die Straßen abzugehen. Und dann … dann hatte sie das Schwein gefunden. Gestern hatte sie ihn an einer Dönerbude aufgestöbert und war ihm gefolgt, bis sie ihn in dem Haus verschwinden sah, vor dem sie jetzt steht.

Ihre Hand umfasst noch immer die Waffe. Dieses Mal ist es nicht die lächerlich nutzlose Geldrolle. Dieses Mal ist es ein Messer. Das beste Messer, das sie in ihrer Wohnung hat finden können. Eines mit dem sie sonst Fleisch zerschnitt, ehe sie es in die Pfanne warf. Fünfzehn Zentimeter lang und scharf. Sie hat es geschliffen, ehe sie das Haus verlassen hat und in den Wagen gestiegen ist. Sie hat es in einen Schal gewickelt, nur für den Fall, dass jemand zufällig in den Wagen sieht, und neben sich auf den Beifahrersitz gelegt.

Er wird vielleicht nicht von der Polizei zur Rechenschaft gezogen werden. Aber von ihr. Sie wird ihm die Möglichkeit geben, genauso abstoßend auszusehen, wie … sie seufzt und unterdrückt ihre wütende Verzweiflung. Ihre Fingerkuppen umspielen den Holzgriff, während sie wartet. Stundenlang.

 

Und dann geht das Licht aus. Sie befürchtet, dass er einfach schlafen geht. Oder schlicht das Zimmer wechselt. Oder … Ihr wird noch kälter, als sie darüber nachdenkt, was sie tun soll, wenn er sich tatsächlich schlafen legt. Was, wenn er das Haus heute gar nicht verlässt?

Aber dann schaltet sich das trübe, gelbe Flurlicht an.

Kurz darauf öffnet sich die mit Grafitti beschmierte Haustür und ein Mann kommt heraus.

Weil es bereits dämmert, kann sie seine Gesichtszüge erkennen: Er ist es!

Aufgeregt umklammert sie die Waffe, zwingt sich dazu zu warten, bis er ein paar Schritte gegangen ist und sie ihm unbemerkt folgen kann.

Sie macht die Wagentür auf, schiebt sich auf die Straße, das Messer noch immer in der Hand. Sie fühlt das rebellierende Kribbeln in ihren Beinen. Sie hat so lange gesessen, dass es ihr jetzt schwer fällt, ihre Knie durchzudrücken, weil es schmerzt.

Aber sie will ihre Rache! Unbedingt! Also beißt sie die Zähne zusammen, während sie leise die Wagentür zudrückt und ihren Fiesta abschließt, um dann die Verfolgung aufzunehmen.

Das Messer verbirgt sie unter ihrem Mantel, ehe sie ungeschickt über die Straße spurtet. Sie will ihn nicht verlieren. Sie will keine Gelegenheit verpassen. Vielleicht ergibt es sich ja? Vielleicht macht das Schwein den gleichen Fehler wie sie eine Woche zuvor?

Ihn und sie trennen kaum dreißig Meter. Er geht zügig die Straße entlang. Seinen Kopf zwischen die Schultern gezogen, die Hände in den Jackentaschen. Über seinem Kopf steigen Atemwolken auf. Genau wie bei ihr. Es ist bitterkalt.

Noch sind die Straßen unbelebt. Nur ab und zu kann sie in den Häusern um sich herum erste Glühbirnen aufglimmen sehen. Die Stadt erwacht.

Sie rechnet nicht damit, dass er sich wehren wird. Sie baut auf seine Überraschung. Aber sie hat Angst, dass sie von jemandem gesehen wird. Daher wagt sie es nicht, ihn hier anzugreifen. Sie will nicht erwischt werden.

Aber er bleibt auf der Straße. Eilt sie so zügig entlang, dass Marcella Mühe hat, ihm zu folgen. Ihre Beine fühlen sich noch immer schwer an. Zudem ist sie es nicht gewohnt, so lange und so schnell zu laufen. Ihr Atem wird schneller, die Dampfwolken vor ihren Augen häufiger. Ihre Nase brennt, und als sie den Mund öffnet, um Luft zu schöpfen, trocknet ihr Gaumen aus. Die Zähne schmerzen vor Kälte. Sie fühlt ein Stechen in der Seite. Lange würde sie nicht mehr durchhalten.

Aber sie will ihn nicht verlieren!

Dann biegt er in eine Haustür ein und verschwindet aus ihrem Blick.

Fast hätte sie frustriert aufgeschrien. Aber sie kontrolliert sich, läuft zu der Stelle, an der er verschwunden ist. Große Glasfronten spiegeln sie trübe wider. Eine kleine, dickliche Frau mit einem dicken Verband auf der Wange. Die Gesichtszüge verzerrt. Die Augen aufgerissen, der Mund geöffnet.

Sie sieht durch ihr Spiegelbild hindurch in das Haus.

Unterschiedlicher Tand liegt wild durcheinander hinter den Scheiben. Sie kann es kaum erkennen, weil die Dämmerung noch zu zaghaft ist und nur das Licht der Straßenlaternen hineinscheint. Kitschige Heiligenbildchen: Jesus mit goldenem Glorienschein und nach oben verdrehten Augen. Maria mit einem dicken Baby auf dem Arm. Knallbunte Staubfänger, die man sich auf den Fernseher stellen kann, wenn man unbedingt möchte: Einhörner, Adler, Hirsche. Direkt daneben Küchenutensilien: Töpfe, Besteck, geschmackloses Geschirr. Dahinter liegen eingeschweißte Duschvorhänge.

Deckenlampen flackern auf, werfen neonkaltes Licht auf die Straße. Marcella huscht zur Seite, verbirgt sich hinter der Hausmauer. Sie legt den Kopf schräg als sie etwas hört.

„He! Was machst du hier?“

„Arbeiten.“ Sie erkennt seine Stimme wieder. Auch wenn sie jetzt etwas anders klingt.

„Ich hab dir gesagt, du sollst verschwinden!“

„Aber ich brauch den Job!“ Marcella kann es nicht fassen, aber er klingt … verzweifelt.

„Ist mir scheißegal! Kannst froh sein, dass ich dich nicht angezeigt habe. Mach dass du raus kommst! Gib mir meinen Schlüssel zurück! … Und jetzt verzieh dich! Ich hol die Bullen, wenn du kein Land gewinnst!“

Die Ladentür öffnet sich. Marcella kann das zaghafte Klingeln eines Glöckchens hören.

Marcellas Angreifer kommt heraus. Seine Schritte sind zögerlich. Sein Kopf gesenkt.

Der Ladenbesitzer setzt noch einmal nach: „Dein Kleiner tut mir leid. So einen verdammten Versager als Vater zu haben!“ Die Worte werden teilweise von dem Glöckchen begleitet, als sich die Tür wieder schließt.

Der Mann zuckt unter den Worten zusammen, während er in die Richtung zurück schlurft, aus der er gekommen war.

Als er an Marcella vorbei kommt, umkrampft sie ihr Messer. Ihre Armmuskeln spannen sich an, bereit dazu, ihm die Waffe durch das Gesicht zu ziehen.

Aber dann sieht er auf, schaut sie an.

Er erkennt sie nicht, da ist sie sich sicher.

Sie sieht Tränen in seinen Augen.

„Beschissener Tag, was?“, fragt sie, weil sie das Gefühl hat etwas sagen zu müssen.

„Beschissenes Leben“, antwortet er tonlos.

Marcella nickt.

„Was ist passiert?“, ringt er sich die Frage ab und deutet auf ihren Verband.

„Überfall.“

„Scheiße.“

„Ja.“

„Hat das Arschloch bekommen, was es verdient?“

„Ich denke schon“, antwortet Marcella und wendet sich zum Gehen.

 

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