Familienbesuch

erste Fassung

entstanden im September 2012

(c) Marina Clemmensen

 

Sie warf einen Blick auf das abgegriffene Stück Pergament, das auf dem schweren Eichenholztisch inmitten unterschiedlichster Flaschen, Tiegel und Töpfchen lag.

„Du solltest dich beeilen, wenn du ihn noch einmal sehen willst.“

Sie konnte nicht besonders gut lesen. Und schon gleich gar nicht diese krakelige Schrift, die vor Wochen mit schlechter Tinte geschrieben worden war. Der mit Tierfett vermengte Ruß war verblasst und durch ihre eigenen Hände noch weiter abgerieben worden.

„Beeilen.“

Ja, das tat sie. Sie wandte sich wieder dem Dreifuß zu, von dem ein tönerner Tiegel über eine Kerze gehalten wurde. Die Flüssigkeit kochte nicht, war aber heiß genug, um dünne Schwaden in die Luft steigen zu lassen. Sie warf ein sorgfältig zerriebenes Krautgemisch in das Gefäß. Sah dabei zu, wie der Klumpen erst träge zerfloss und dann unterging. Mit einem glänzenden, silbernen Löffel rührte sie das Gebräu um. Wartete, bis sich die Kräuter vollständig aufgelöst hatten und roch dann prüfend an der Flüssigkeit. Fast. Es fehlte noch etwas, das den beißenden Geruch verdecken konnte. Sie blickte sich um. Von der durch dicke Balken gehaltenen Decke hingen Kordeln. An den Kordeln hatte sie über die Jahre sorgfältig Kräuter aufgehängt, damit sie, vor Ungeziefer sicher, trocknen konnten. Sie reckte sich nach oben, griff nach einem Zweig, dessen zahllose Blüten einst tiefrot geleuchtet hatten, jetzt jedoch grau und traurig nach unten hingen. Sie zupfte eine Hand voll Blüten ab und rührte sie in das Gebräu.

Bald stieg ein angenehmer Duft auf und erfüllte die kleine Hütte.

Zufrieden nahm sie den Löffel wieder heraus. Jetzt war er nicht mehr blank poliert, sondern dort, wo er die Flüssigkeit berührt hatte, dunkelgrau angelaufen.

Sie blies die Kerze aus, wartete ungeduldig darauf, dass der Tiegel kühl genug wurde, dass sie ihn gefahrlos anfassen konnte und füllte den Sud in ein Fläschchen um, welches sie akribisch verkorkte.

Dann griff sie nach ihrem Umhang und ihrem vorbereiteten Bündel, schob die Flasche in eine ihrer zahlreichen Gürteltaschen, verließ ihr Haus und machte sich auf die Reise.

 

Sie hatte die kleine Stadt betreten, ohne dass es ihr Schwierigkeiten bereitet hätte. Möglicherweise würde sie ihr eigentliches Ziel ebenfalls ohne Probleme erreichen. Aber sie wollte kein Risiko eingehen. Und so fand sie Anschluss an eine Gruppe reisender Händler, die sie aufnahmen, nachdem sie ihrem Anführer ihr letztes Erspartes in die gierigen Hände gedrückt hatte.

„Du tust gut daran, dich uns anzuschließen“, sagte der Händler, während er ihre Münzen in seinem Geldbeutel verschwinden ließ. „Auf den Straßen ist es gefährlich.“

„So?“, fragte sie.

„Ja, sicher! Als wir hierher gekommen sind …“, er drehte sich zu einem jungen Mann um, der sein Schwert schärfte. „He! Sag mal: wie oft wurden wir überfallen?“

Der Mann mit dem Schwert kniff die Augen nachdenklich zusammen. „Oh, ich glaube vier Mal?“

Der Händler wandte sich wieder ihr zu. „Da kannst du sehen. Und das obwohl die Reichswachen ihr Bestes geben. Aber sie werden dem Gesocks einfach nicht Herr. Eine Schande ist das.“

„Das ist ja nicht alles. Wenn ich an die Brände denke …“, murmelte der Mann mit dem Schwert und widmete sich wieder seiner Waffe.

Der Händler nickte nachdenklich mit dem Kopf. „Ja. Er hat recht. Ein ganzes Dorf! Bis auf die Grundmauern herunter gebrannt.“

„Wieso?“, fühlte sie sich verpflichtet zu fragen, obwohl es sie nicht interessierte.

„Wieso? Wer kann das sagen? Vielleicht hat jemand nicht auf seine Feuerstelle geachtet? Wenn ich so an das trockene Wetter denke, könnte ein Funke genügt haben. Die, die überlebt haben, haben jedenfalls behauptet, dass es eine Hexe war. Jawohl! So wahr ich hier vor dir stehe! Eine Hexe soll ihr Dorf angezündet haben“, er schüttelte grinsend mit dem Kopf.

Sie hob ihre dünnen Augenbrauen.

„Sie haben nach der heiligen Inquisition geschickt. Die Gottesmänner werden sich schon darum kümmern“, der Händler lachte, „Wer weiß? Vielleicht haben die Dörfler ja Glück und sehen das gottverlassene Miststück brennen?“

Sie zwang sich zu einem Lächeln, während sie ihre Finger zu Fäusten schloss.

„Na, irgend wen werden sie brennen sehen. Die Inquisition wird sich schon jemanden aussuchen, der …“ Der Händler zischte den Bewaffneten warnend an.

„Ach, keine Sorge, Mütterchen“, sagte er dann, als er ihre verkrampften Finger sah. „dir wird nichts passieren. Wenn du immer in unserer Nähe bleibst, bist du in Sicherheit.“

'In Sicherheit', dachte sie bitter, während ihre Gedanken abschweiften, zurück in eine Zeit, in der sie ebenfalls auf Sicherheit gehofft hatte.

 

Wie alt mochte sie gewesen sein? Acht? Neun? Spielte es überhaupt eine Rolle? Jedenfalls war sie noch jung genug, um ihre freie Zeit mit den anderen Kindern auf der Straße zu verbringen, aber schon alt genug, dass ihr Vater sich langsam nach einem Haushalt für sie umsah, in den sie einheiraten konnte. Was ihr Vater damit bezweckte, wenn er immer wieder fremde Leute ins Haus brachte, hatte sie damals nicht gewusst. Sie hatte zu solchen Anlässen stets in ihr bestes Kleid anlegen müssen und sollte sich besonders brav und sittsam benehmen. Also tat sie, was von ihr, als Tochter aus anständigem Hause, erwartet wurde und harrte gelangweilt aber geduldig aus, bis diese Treffen wieder vorbei waren.

Als wieder eine dieser Zusammenkünfte stattfand, wurde ihr der Fremde als Kaufmann aus coenobium Astnide vorgestellt. Astnide, erklärte ihr Vater, sei knapp eine Tagesreise entfernt, und daher wäre es eine ganz besondere Ehre, dass sich der Herr die Zeit genommen hatte, sie zu besuchen. Er selbst benahm sich an diesem Tag ganz besonders gastfreundlich: Aus einer seiner Truhen, die er immer abgeschossen hatte und die sie nie hatte anrühren dürfen, holte er eine verstaubte Flasche und trug währenddessen ihrer Mutter auf, die besten Becher zu bringen.

Ihre Mutter, die damals mit dem vierten Kind schwanger ging, stellte die geforderten Trinkgefäße auf den polierten Holztisch. Gerade als sie sich wieder zurückziehen wollte, riss der Mann seine Hand vor den Mund und hustete.

Sie hätte sich nicht daran erinnert - ganz gewiss nicht nach all den Jahrzehnten, die seitdem ins Land gegangen waren - hätte ihre Mutter nicht diesen seltsamen, besorgten Ausdruck auf ihrem Gesicht bekommen, als sie die Handfläche des Gastes sah.

„Leidet ihr schon lange an diesem Husten?“, fragte ihre Mutter.

Der Gast nickte. „Fast eine Woche.“

Ihre Eltern tauschten einen Blick. Dann wandte sich ihr Vater an sie: „Mathilde. Ich möchte, dass du das Haus verlässt. Geh nach draußen und spiel mit deinen Freunden.“

Verwirrt zupfte sie an ihrer Cotte, wollte einwenden, dass sie beste Kleidung trug, aber ihre Mutter fuhr ihr über den Mund: „Das ist gleichgültig. Versuch einfach dich nicht dreckig zu machen. Ich hol dich dann wieder herein.“ Sie schob ihre Tochter hastig durch die Tür und verschloss sie hinter ihr.

Mathilde überlegte, ob sie der Aufforderung ihrer Mutter nachkommen, und sich jemanden zum spielen suchen sollte.

Aber dann siegte ihre Neugier. Sie lief um das Haus herum, presste sich an die Mauer und spähte durch eine kleine Fensternische hinein.

„… möchte euch nicht beunruhigen, aber es sieht böse aus“, sagte ihr Vater, den sie von dort wo sie stand nicht sehen konnte.

Ihre Mutter huschte an dem Fenster vorbei. Mathilde duckte sich. Dann hörte sie ihre Mutter mit Geschirr hantieren. Mathilde brauchte sie nicht zu sehen, um zu wissen, was sie tat. Sie hatte Mörser und Stößel deutlich vor Augen. Ihre Mutter hatte ihr schon oft gezeigt, wie man damit umzugehen hatte: Welches Kraut Schmerzen lindern konnte, welche Wurzeln man aufkochen musste, wenn jemand fieberte. Mathilde wunderte sich allerdings darüber, dass ihre Mutter ihre Tinkturen zubereitete, obwohl sie Besuch hatten. Sie hatte ihrer Tochter immer sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass dies ein Wissen sei, das unter keinen Umständen mit Fremden geteilt werden durfte.

„Ihr solltet dringend nach einem Arzt schicken lassen. Oder besser noch ein Hospital aufsuchen,“ riet ihr Vater.

Der Fremde klang belustigt, als er antwortete: „Mir ist ein Zimmer in einer schäbigen Herberge um einiges lieber, als ein Besuch …“ Er keuchte und ein erneutes Husten hielt ihn davon ab, weiter zu sprechen.

„Er hat recht“, pflichtete ihre Mutter bei. „In einem dieser elendigen Hospitäler holt er sich nur den Tod.“ Sie lief wieder am Fenster vorbei. Mathilde konnte ihre Schritte hören. Dann hielten sie plötzlich inne und ihre Mutter zischte direkt über ihrem Kopf: „Mach, dass du verschwindest, Kind! Lass dich nicht mehr hier sehen, bis ich dich rufe. Hast du verstanden?“

Das zornige Gesicht ihrer Mutter ließ sie davon laufen.

Das war das letzte Mal, dass sie es hatte sehen dürfen.

 

„Du solltest um unser aller Leben willen lieber mir das Reden überlassen“, sagte der Händler zu seinem bewaffneten Begleiter während er nach vorn, die Straße entlang, nickte.

Auf dem Helweg, der in einigen Kilometern Trotmanni erreichen würde, hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Sie hatte die Reisegruppe noch nicht entdeckt, sondern schien sich auf eine Siedlung zu konzentrieren, die durch die rußigen Spuren gebrandmarkt worden war. Einige Häuser wurden offenbar wieder aufgebaut, denn regelmäßiges Klopfen hallte über die Ebene und improvisierte Kräne ragten in den Himmel.

Mathilde wusste inzwischen, dass der Händler, der sich Lienhart nannte und seit dem Ende seiner Kindheit als fahrender Händler unterwegs war, gern und viel redete. Aber - so hatte sie bei den Gesprächen, die er mit den anderen Reisenden führte, bemerkt - er hörte auch zu. Und so hatte sie Vertrauen darauf, dass er die richtigen Worte finden würde. Sie hoffte zudem, dass der Bewaffnete Contzlin klug genug sein würde, dem Befehl des Händlers zu folgen. Sie war sich recht sicher, dass es sich bei der zerstörten Siedlung um die selbe handelte, von der Lienhart zu Beginn ihrer Reise gesprochen hatte. Und wenn sie mit ihrer Vermutung richtig lag, dann würde die Stimmung nach wie vor gefährlich sein. Vor allem für eine Frau wie sie.

„Gott zum Gruße“, rief Lienhart, als sein Wagen an der Menge vorbei rumpelte. Es wirkte nicht so, als wolle er die Reisegruppe anhalten lassen. Aber zwei kräftige, in Sarrocks gekleidete Männer stellten sich ihm in den Weg und zwangen ihn dazu, seinen Wagen zum Stehen zu bringen.

„He, Händler“, rief einer der Männer, während er in das Zaumzeug des Maultieres griff, das vor den Wagen gespannt war, „was hast du geladen?“

Contzlin legte eine Hand auf seinen Schwertknauf. Lienhart gestikulierte ihm knapp, er solle seine Waffe los lassen, ehe er antwortete: „Och, so dies und das. Was könnt ihr gebrauchen?“

Ein älterer Mann löste sich aus der Menge, die am Siedlungsrand stand und schlurfte zu den Händlern herüber. „Gebrauchen könnten wir wohl alles, was du zu bieten hast“, keuchte er. Eine junge Frau beeilte sich den Alten zu stützen, wich den Blicken der Sarrocks aus und presste ihre Lippen aufeinander. „Nur bezahlen können wir nichts“, fuhr der Mann mit einer ausschweifenden Geste, die vor allem die Gebäudereste mit einschloss, fort. „Wie du siehst brauchen wir jeden Pfennig.“

Mathilda betrachtete die Häuser. Es waren nicht alle zerstört worden. Es waren nur eine Hand voll Gebäude niedergebrannt. Zwischen den verkohlten Balken erhob sich etwas sehr schmales und sehr dunkles. Die Stelle, an der es den Boden berührte, war verdeckt. Dennoch konnte sie sich nur zu genau denken, was sie dort würde sehen können.

Der Alte war ihrem Blick gefolgt. „Die Heilige Inquisition hat sie mit Gottes Hilfe gefunden. Es ist kaum zu glauben, aber sie hat mitten unter uns gelebt.“

„Eine Schande ist so was“, sagte Lienhart, „scheints, nirgendwo sind wir sicher vor der Teufelsbrut.“

Der alte Mann nickte erst und schüttelte dann bekümmert den Kopf. „Sie war meine eigene Tochter. Stellt es euch vor: Sie ist in den gleichen Mauern aufgewachsen, die sie niedergebrannt hat.“

„Und dafür hat sie am Ende ebenso gebrannt“, brummte der Sarrock.

Mathilde tanzten Bilder zuckender Leiber, schreiender Münder und kochenden Fleisches vor den Augen. Sie hatte schon viele Scheiterhaufen brennen sehen. Viel zu viele.

„Fast wäre sie davon gekommen“, ereiferte sich die junge Frau an der Seite des Greises, „sie hat …“ Ein strenger Blick des Alten ließ sie verstummen.

„Sie wurde durch die Flammen vor Gott geläutert“, sagte er mit fester Stimme. „Lasst uns nicht mehr davon sprechen.“

Er wandte sich an Lienhart. „Wir können uns nichts leisten.

Ich wünsche ich euch eine sichere Weiterreise.“

 

Sie straffte ihre Gestalt, strich sich die Haare ein letztes Mal sorgfältig unter die Haube, ehe sie den schweren Türklopfer betätigte.

Es dauerte einen Moment, ehe sie hinter der Tür Schritte hören könnte. Dann wurde ihr geöffnet. Ein Mädchen, dessen Bekleidung es als Bedienstete auszeichnete, sah sie fragend an.

„Ich bin hier um deinen Herrn zu sehen“, sagte Mathilde.

Das Mädchen zögerte, ehe es leise ansetzte: „Es tut mir leid, aber der Herr ist krank. Mir wurde aufgetragen, niemanden …“

Mathilde zog die Augenbrauen zusammen. Sie hatte nicht vor, sich von einer Magd abweisen zu lassen. „Das ist mir bekannt. Deshalb bin ich hier.“

„Aber ich …“, begann es und wich Mathildes Blick aus.

„Geh und hol mir die Tochter deines Herren an die Tür“, verlangte Mathilde grob. Sie lugte durch die Tür, und schmerzliche Erinnerungsfetzen flackerten durch ihre Gedanken, während sich die Dienstbotin eilig ins Innere des Hauses zurück zog und die Tür hinter sich schloss. Mathilde hatte es zwar befürchtet, aber nicht wirklich erwartet, dass dieser Gang derartig schwer werden würde. Während sie vor dem großen Haus stand, überlegte sie, ob sie nicht einfach kehrt machen und wieder zurückkehren sollte. Aber dann wurde die schwere Eichentür erneut geöffnet und eine Frau, ein wenig jünger als Mathilde selbst, schob sich in den Eingang. Sofort breitete sich ein breites Lächeln in ihrem Gesicht aus. „Mathilde!“ Sie trat zur Seite und ließ Mathilde eintreten. „Komm herein!“ Die Stimme der anderen hatte sich verändert. War tiefer geworden, zittrig. Genauso zittrig, wie ihr Gesicht faltig geworden war. Aber das waren sie inzwischen wohl beide: faltig. Alt.

„Wo ist er?“, fragte Mathilde.

Das einladende Lächeln der anderen wurde schmaler, als ihr offenbar bewusst wurde, dass Mathilde ihre Freude nicht teilte, bis es schließlich ganz erstarb. „Er ist oben“, erwiderte sie dann kühl.

„Danke“, sagte Mathilde und schob sich an der Anderen vorbei. Während sie auf die Treppe zusteuerte, fügte sie hinzu: „ … auch für den Brief.“

Sie ließ ihre Schwester hinter sich zurück und stieg die knarrenden Stufen empor.

Am Ende eines schmalen Flurs gab es eine geschlossene Tür. Mathilde hätte ihre Erinnerungen nicht gebraucht, um das elterliche Schlafzimmer wiederzufinden. Der Geruch nach Alter und Krankheit schlug ihr schwer entgegen.

Sie trat in das Zimmer ein, ohne zu klopfen.

Zwischen allerlei Fellen und Kissen lag ein abgemagertes Gesicht. Blasse Augen suchten den Türrahmen und flackerten kurz, als sie Mathilde erkannten. Dann wanderten sie wieder zurück und saugten sich an der Decke fest. Der halb geöffnete, schmallippige Mund gab ein leises Stöhnen von sich, gefolgt von einem schwachen „Du bist es.“

Mathilde ging zum Bett, stellte sich daneben auf und schaute auf den sterbenden Mann herab. Es fiel ihr schwer ihn mit dem kräftigen, stolzen Menschen in Zusammenhang zu bringen, der er einst gewesen war.

„Ja.“

„Du bist gekommen.“ Seine Augen waren noch immer zur Decke gerichtet. Die fahle Haut glänzte im düsteren Licht, das sich durch ein kleines Fenster den Weg in das Zimmer erkämpfte.

Sie antwortete ihm nicht. Stattdessen zog sie sich einen Hocker an das Bett und setzte sich darauf, ohne um Erlaubnis zu fragen. Damals, vor fast einem ganzen Leben, hätte sie sich das nicht gewagt.

Seine Augen suchten jetzt wieder den Kontakt zu ihr. Sein Kopf drehte sich über die dicken Kissen in ihre Richtung. Sie konnte den Schädel durch die dünne Haut erkennen. Die dunklen Ringe, die blutleeren Lippen, die eingefallenen Wangen erzählten von seiner nicht mehr so fernen Zukunft.

„Ich konnte nicht anders“, sagte er. Seine Stimme klang zerbrechlich. Gänzlich anders als damals.

Sie schwieg. Unterdrückte die Antworten, die sie ihm seit damals immer wieder in Gedanken entgegengeschleudert hatte.

„Du musst mir glauben. Ich hatte keine Wahl.“

„Doch. Die hattest du“, brach sie mit leiser, beherrschter Stimme ihr Schweigen.

Sein Mund verzog sich. Sie konnte nicht entscheiden, ob es ein Lächeln war oder ein Ausdruck von Schmerz.

„Welche denn?“

„Du hättest zu ihr stehen können.“

„Ja. Das hätte ich. Und dann? Dann hätte man auch mich zur peinlichen Befragung gebracht.“

„So wie sie.“

„Ja, so wie sie. Und wer hätte sich dann um euch kümmern sollen?“

„Das hast du nicht“, es fiel ihr zunehmend schwerer, ihren Zorn zu verbergen.

„Nein? Und wer hat dafür gesorgt, dass du …“

„Dass ich weg gebracht wurde?“, unterbrach sie ihn.

Er rang rasselnd nach Atem, ehe er weiter sprach: „Es ist nicht ein einziger Tag, den der Herr hat werden lassen, vergangen, an dem ich nicht um Vergebung für meine Sünden gebetet habe. Nicht ein einziger.“

„Glaubst du daran, dass dir der Herr vergeben wird?“

Er schloss die Augen, wirkte erschöpft. Antwortete nicht auf ihre Frage.

Ihre Finger suchten nach dem Beutel, der an ihrem Gürtel hing. Fühlten nach dem Fläschchen. Sie überlegte, wie sie es anstellen konnte.

„Willst du einen Schluck Wasser?“

Seine Hand wühlte sich zur Antwort aus dem Fell heraus und dürre Finger, deren Gelenke geschwollen herausstachen, deuteten fahrig auf einen Krug und einen Becher, die auf einem Tisch standen.

Während sie aufstand öffnete sie den Beutel und nahm die Flasche heraus. Sie stellte sich zwischen Krug und Bett, entkorkte das Fläschchen und leerte seinen Inhalt in den Becher. Dann füllte sie ihn mit Wasser auf.

Als sie sich wieder herumdrehte, hatte er seine Augen wieder geöffnet. Er blickte sie neugierig an.

„Ich sterbe sowieso“, flüsterte er, „es ist nicht nötig, dass du dein Gewissen belastest.“

Sie lächelte mitleidig.

„So Gott will, werde ich bald diese Welt verlassen. Dann finde ich hoffentlich Frieden“, murmelte er.

Um ihm zu zeigen, dass sie nicht beabsichtigte, ihn zu vergiften, nahm sie selbst einen Schluck aus dem Becher und ließ das fast geschmacklose Wasser ihre Kehle hinab rinnen.

Dann half sie dem alten Mann auf, und legte ihm das Gefäß an die Lippen. Möglicherweise roch er die Flüssigkeit, die sie zugesetzt hatte, dennoch trank der Sterbende nach einem kurzen Zögern. Sie nahm den Becher von seinem Mund, als er ihn restlos geleert hatte.

„Du musst mir glauben: es gab für mich keine Wahl. Als er,“ sie war sich sicher, dass er von dem Kaufmann sprach, der damals bei ihnen gewesen war, „gesundete, hatte sein Weg ihn unverzüglich zur Inquisition geführt.“

Sie legte ihn vorsichtig wieder zurück auf das Bett. Sein Körper schien zu versinken.

„Kein Tag ohne die Schuld“, seufzte er.

Sie nickte. Sie wusste es. Ihre Schwester hatte es ihr geschrieben. Sie hatte geschrieben, dass er Nächte lang nicht schlafen konnte, dass er von Albträumen geplagt wurde, dass er des Nachts den gesamten Hausstand mit seinen Schreien weckte, dass er sich den erlösenden Tod wünschte.

„Wirst du mir vergeben?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Nein,“ sagte sie, „das werde ich nicht.“

Sie sah seine Hoffnung zerbrechen, ehe sich seine Augen schlossen und Tränen an den Wangen entlang liefen.

Sein Körper entspannte sich.

Sie stieg die Stufen wieder herab, begleitet von seinem gleichmäßigen, leisen Schnarchen. Mathilda war nicht das, was sie Hexe nannten. Sie war kein schlechter, vom Teufel besessener Mensch. Im Gegenteil: sie war Heilerin, genau wie es ihre Mutter gewesen war.

Er – ihr Vater – würde nicht sterben. Noch lange nicht. Sie hatte ihm Jahrzehnte geschenkt. Noch viel Zeit, in der gebrochen und leidend an die Nacht zurückdenken konnte, in der er tatenlos dabei zu gesehen hatte, wie ihre Mutter verbrannt worden war.

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Ich, die 816 (Freitag, 22 Februar 2013 17:36)

    Eine Kurzgeschichte mit "giftigem" Ende.
    Für mich doch sehr durchgängig aufgebaut, lediglich der Übergang vom guten Wunsch zu sicheren Heimreise bis zum Klopfen an der Tür fand ich etwas krass.